Zum Zustand des öffentlichen Lebens in unserer Stadt und aus Liebe und Verbundenheit zu ihr.
Von Christian Günther
Erscheint Ihnen die Titelzeile dieses Artikels wie eine Provokation? Gut so. Genau das soll sie auch sein. Zuweilen sind gezielte Provokationen leider nötig, um Problembewusstsein zu schärfen oder überhaupt erst einmal zu erkennen, dass etwas in eine bedenkliche Schieflage geraten ist, auch wenn man grundsätzlich einen harmonischen Umgangston bevorzugt.
Einige Wochen bevor diese Zeilen hier Ende Mai 2023 entstanden sind, fragte mich ein sehr guter Freund während wir hier im Kleinschmidt beieinander saßen ganz unvermittelt aus dem Nichts: „Sag mal: War Eberswalde schon jemals so tot?“ Die Frage hatte etwas von einem kräftigen, mich unvorbereitet treffenden Kinnhaken und zugleich von einer wohltuenden, verständnisvollen Umarmung.
Von einem Kinnhaken, weil es natürlich schmerzt, wenn man seit 15 Jahren versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Beitrag zu leisten, seiner Heimatstadt öffentliches Leben einzuhauchen, Ausgehkultur zu fördern, seinen Mitmenschen nicht nur Nahrung im Sinne von Speisen und Getränken anzubieten, sondern auch Seelennahrung in Form von Kultur, einem Ort von Begegnung und Gedankenaustausch. Und natürlich schmeichelt es und freut, wenn viele Menschen dieser Stadt das Kleinschmidt als ihr öffentliches Wohnzimmer bezeichnen. Dafür machen wir das.
Von verständnisvoller Umarmung, weil ich es ja lange schon auch selber so wahrnehme. Nehmen Sie das auch wahr, liebe Leser dieses Artikels? Ist Ihnen bewusst, wo es hinführt, wenn sich diese Tendenz noch eine Weile verstetigt?
Richtig ist, das Eberswalde im Jahre 2023 so schön ist, wie es vermutlich seit Ausbruch des Krieges nicht mehr war. Nach dem vierzigjährigen Experiment des „real existierenden Sozialismus“ namens DDR, in dem die meisten bausubstanzlichen Kriegsschäden sorgfältig konserviert und ansonsten ausdauernde Verfalls- und Verwitterungsstudien betrieben wurden, lediglich hier und da garniert mit notdürftigen Bausünden, die in Verfall und Verwitterung die kriegsversehrten Altbauten bereits binnen weniger Jahrzehnte einholten, ist sehr viel geschehen. Auf Youtube findet man das in Eberswalde inzwischen legendäre Video, dass dankenswerterweise ein geistesgegenwärtiger Mitmensch im Herbst/Winter 1989/90 aufnahm, in dem er die komplette Stadt abfuhr und aus dem Autofenster heraus einfach nur den Ist-Zustand von damals festhielt. Der Abgleich mit heute, ein Dritteljahrhundert später ist sagenhaft.
Positiv ebenfalls, dass seit etlichen Jahren der Bevölkerungsschwund nicht nur gestoppt zu sein scheint, sondern sich der Trend umkehrt und Eberswalde wieder wächst.
Aber das öffentliche Leben? Eberswalde ist inzwischen wieder eine recht schöne Stadt; nur leider eine schöne Schlafstadt. Was ist passiert?
Wenn man Ende der 90er Jahre nachts um eins noch irgendwo gepflegt (!) – wir reden hier nicht von düsteren Spelunken, wo sich Tunichtgut und Taugenichts am Urinal duellieren! – etwas trinken wollte, hatte man selbst unter der Woche die Wahl zwischen mindesten drei Anlaufstellen, die garantiert noch geöffnet waren. Auch das Kleinschmidt hatte noch bis ins Jahr 2016 täglich (!) bis mindesten 02:00 Uhr geöffnet. Da wir aber immer öfter ab Mitternacht hier sinnlos den Laden geöffnet hielten, habe ich der wirtschaftlichen Vernunft folgend entschieden, entscheiden müssen, die garantierte Öffnungszeit auf 0:00 Uhr vorzuziehen, mit der immer geltenden Option, dass der Laden selbstverständlich auch länger geöffnet bleibt, wenn noch mindesten zehn-zwölf Gäste da sind, die konsumieren. Das geschieht inzwischen allerdings selbst am Wochenende nur noch selten. Und wenn wir dann um 0:30 oder 01:00 Uhr schließen, sind in der ganzen Stadt gefühlt schon seit Stunden die Gehsteige hochgeklappt.
Um zwei mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier nicht vordergründig ums Kleinschmidt. Es geht um das ganzheitliche Leben von ca. 42.000 Stadteinwohnern (mit naheliegenden kleinen Ortschaften wie Finowfurt, Britz, Lichterfelde sogar über 50.000), um Aktivitäten im öffentlichen Raum, wozu auch der Besuch von Kino, jedweder Kulturangebote und eben auch der verbliebenen, derbe ausgedünnten Gastronomielandschaft gehören. Und zum anderen soll es hier auch gar nicht vordergründig um das reine Nachtleben nach 0:00 Uhr gehen. Der von mir sehr geschätzte Udo Jürgens schrieb vor zwanzig Jahren sein Lied „Es lebe das Laster“ und handelte sich dafür den Vorwurf ein, er würde die Lasterhaftigkeit zur Tugend umdeuten. Herrje, offenbar waren damals schon die spaßbefreiten moralischen Narzissten auf dem Vormarsch, unfähig Satire zu erkennen und Ironie zu begreifen. Bevor mich nun also dieselbe Schmähung ereilt, sei explizit herausgehoben: Es ist vollkommen in Ordnung, dass die allermeisten Menschen auch in Eberwalde bevorzugen um 0:00 Uhr in wohligem Schlummer das Lummerland zu bereisen. (Dass es vor zehn, erst recht vor 20 Jahren aber eben doch ein paar zig Menschen Wochentags und einige hundert am Wochenende waren, die die oben erwähnten Läden auch noch nach 0:00 Uhr belebten, sollte nicht völlig unbeachtet bleiben.)
Es geht viel mehr um das immer mehr verebbende öffentliche Leben in den Abendstunden, nach getaner Arbeit, am Wochenende. Wenn von 50.000 Menschen an so manchem Wochentag sich auf alle gastronomischen Angebote der Innenstadt um 20:00 Uhr keine 200 Gäste verteilen, dann sind das keine 0,5% der Stadtbevölkerung!
Ist es die grassierende Netflix-Lieferando-Mentalität? Egozentrische Lust an der Vereinzelung mit Hang zur ausgeprägten Sozialphobie? Wohlstandssaturierte Antriebslosigkeit? Ganz sicher ist es bei einigen die Knappheit des Geldes – und das gilt es am meisten zu beklagen, denn es ist mehr als bitter, wenn man gern mit einem Freund ein Bier trinken gehen will oder mit seinem Herzensmenschen ein Glas Wein an einem milden Sommerabend und es sich schlicht nicht leisten kann.
Die Wahrheit ist aber, dass es den Eberswaldern wirtschaftlich nie so schlecht ging wie in den späten 90er Jahren und den frühen 00ern. Wir hatten damals Arbeitslosenquoten von 25% und von jenen, die das zwar nicht betraf waren viele dennoch massiv unterbezahlt. In diesen Jahren gab es aber dennoch ein erheblich publikumsstärkeres öffentliches Leben. Das Geld kann es also nicht sein.
Ganz einfache Rechnung zum Verständnis des Problems (und zur vergleichsweisen einfachen Lösung, wie eine scheinbar tote Stadt zu einer sagenhaft pulsierenden werden könnte): Können wir uns darauf verständigen, dass es statistisch im Mittel keine sonderlich große Hürde darstellennsollte, dass jeder Eberswalder es sich leisten kann 10,- € pro Monat mehr als in den letzten Jahren in sein öffentliches Leben zu investieren? Die Summe soll ja nicht gespendet werden, sondern zum eigenen Wohlbefinden im Kino, bei Kulturveranstaltungen, in Restaurants, Kneipen, Cafés und natürlich ganz besonders im Kleinschmidt genussvoll ausgegeben werden.
Nur 10,- € pro Kopf und Monat bei 50.000 Einwohnern – und ja, ich weiß, darunter sind auch alle Säuglinge, Kleinkinder, Bettlägerige am Ende ihres hoffentlich erfüllten Lebens, soziophobische Misanthropen und eben leider auch Menschen, für die selbst 10,- € im Monat eine nicht aufzubringende Summe darstellt (was notabene eine Schande ist für ein insgesamt so reiches Land!); so ist das mit Statistiken; jeder frisiert sie sich so, wie er sie hübsch findet; das möge man mir hier bitte auch zubilligen – ergibt ziemlich präzise eine halbe Million Euro pro Monat, die zur Vitalisierung von Eberswalde beitrüge, zum positiven Lebensgefühl einer lebendigen Stadt. Übersetzt heißt das, dass mit dieser Summe bequem 12 Bars, Kneipen, Cafés, wie das Kleinschmidt mehr in der Stadt vorhanden sein und bewirtschaftet könnten + ein weiteres Kino, vielleicht sogar ein kleines Theater und alle bereits jetzt schon (oder jetzt noch) vorhandenen Betriebe, besser und planungssicherer existieren könnten. Durch nur 10,- € pro Kopf und Monat!!!
Es ist höchste Zeit zu verstehen, dass die Realität in der wir leben ganz maßgeblich von uns selbst beeinflusst wird. Jedes kleine Dorf, dass seinen Dorfkrug als einzige Schänke, als Ort der Begegnung und des Austauschs, der frohen gemeinsamen Stunden, der Hochzeiten und Trauerfeiern, der geistreichen und auch schwachsinnigen Diskussionen, des Streits am Stammtisch und der bierseligen Versöhnung in der Dorfgemeinschaft verloren hat, ist Zeuge eines meist unwiederbringlichen Verlusts. Wir sind Menschen, wir sind nicht digital, wir brauchen den Kontakt mit anderen, auch wenn der zuweilen anstrengt. Sie müssen deswegen ja nicht gleich Ihr Netflix-Abo kündigen, aber einmal öfter raus ins echte Leben, tut der Seele gut und macht unsere Stadt, die Stadt in der wir gerne Leben wollen, für alle attraktiver.
Meine inzwischen erwachsene, wundervolle Tochter, wird mir hoffentlich verzeihen, wenn ich diese private Anekdote hier öffentlich mache: Vor vielen Jahren, sie wird damals vielleicht zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, wollte sie, wie alle Kinder, wieder einmal ganz unbedingt fernsehen. Da ich an die Kraft des Arguments glaube und gestrenge, autoritäre Auftritte zu minimieren versuche, lenkte ich sie mit der Frage ab: „Sag mal, weißt Du eigentlich, warum Menschen so gerne fernsehen?“ Damit hatte ich sie erst einmal eine Weile beschäftigt. Es kamen einige Erklärungsversuche aus der verständlichen Sicht eines Kindes, die allesamt auch gar nicht abwegig waren, aber nicht den eigentlichen Kern trafen. Sie kapitulierte irgendwann und forderte beherzt (ganz der Vater!) die erklärende Auflösung. „Das ist ganz einfach.“ erklärte ich ihr:„Menschen sitzen so gern stundenlang vor dem Fernseher, weil sie dort Menschen sehen, die nicht fernsehen! Stell Dir vor, Du sitzt vor dem Fernseher und schaust Dir einen Film an, in dem Menschen auf dem Sofa sitzen und Fernsehen. Wie langweilig wäre das denn?! – Genauso langweilig wie Du und ich, wenn wir auf dem Sofa sitzen und stupide fernsehen.“
Also liebe Eberswalder, liebe Nachbarn; ich will auch in zehn und zwanzig Jahren noch diesem tollen Kleinschmidt-Team gute Löhne zahlen können und Sie wollen auch in zehn und zwanzig Jahren noch ihre Dorfkrüge als öffentliche Wohnzimmer haben. Einmal öfter im Monat die überdimensionierte Glasscheibe im Wohnzimmer auslassen und raus in das wilde Abenteuer „echtes Leben unter Menschen“. Und wenn wir einmal öfter dem, der es sich leider wirklich nicht leisten kann, freundlich und nicht arrogant gönnerhaft, ein frisches Bier, ein schönes Glas Wein spendieren, hat die Seele mehr davon als von einer lauwarmen Pizza von Lieferando beim stumpfen Anschauen irgendeiner gehypten Netflix-Serie.
Es ist jetzt vier Uhr in der Nacht und ich trinke den letzten Schluck aus dem zweiten Glas Wein, jetzt wo sich dieser Artikel seinem Ende neigt und ich möchte ihn mit der schönen Vorstellung beschließen, dass ich mit meinem lieben Freund vom Anfang dieses Beitrags in zehn Jahren wieder hier zusammensitze und er mich genauso unvermittelt wie vor ein paar Wochen fragt: „Sag mal, war Eberswalde schon jemals so lebendig?“
Und dann möchte ich ihm von meiner Großmutter berichten, die das Kleinschmidt von 1927 bis 1977 führte…
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Text erschien zunächst Mitte Juni 2023 im Kleinschmidt Kurier https://www.kleinschmidt-eberswalde.de/
Der Jazz in E.-Blog von Thomas Melzer
Zum 28. Mal: die Sinnfrage
Der vierte Tag
Für den heutigen vierten Konzertabend hat sich der Chronist frei geben lassen. Die Konzerte des Joanna Duda Trios und von Athina Kontou Mother am Abend wird er verpassen. Stattdessen wird er in Thüringen seine alten Klassenkameraden treffen und sich von zwei von ihnen zur Rede stellen lassen müssen, warum er im Vorjahr das Interesse am Konzert einer englischen Rockband verweigerte, deren Platten uns zu DDR-Zeiten 150 Mark wert waren. Nur noch ein Gründungsmitglied sei jetzt dabei, vielleicht war es ja der letzte Auftritt. Eben darum, werde ich sagen. Bei 60 Jahren liegt der Kipppunkt, habe ich kürzlich irgendwo gelesen. Zu wenig Zeit nur noch, um sie im Museum der eigenen Jugend zu verplempern. Man weiß ja, was einen dort erwartet, in der Abteilung Rockmusik sowieso. Ein berühmtes Gitarrenriff, gleich am Songanfang, tä-tä-tää, tää-tä-tä-tatää, … tausend Mal gehört. Der Rauch ist da sofort überm Wasser und das Feuer im Himmel und die Musik schnelle Bedürfnisbefriedigung. Im Jazz dagegen weißt du am Anfang nie, was da schwelt und wohin es führt. Da kannst du auch jenseits des eigenen Kipppunktes noch neues, großartiges entdecken. So wie zum Beispiel Maja Ratkje und Stian Westerhus bei Jazz in E. 2023.
Einst war ich an einem frühen Sonnabend im Regionalexpress auf dem Weg zum Guten Morgen-Konzert des „deutschen Chilly Gonzales“, Clemens Christian Pötzsch. Kurz vor Eberswalde ertönte vom Ende des Wagens nerviges Gepiepe. Dann rauschte eine Schaffnerin an mir vorbei, ersichtlich im Kampfmodus. Sie entriegelte die Klotür und zerrte eine Frau nach draußen: „Rauchen ist verboten! Sie haben Feueralarm ausgelöst!“ Die Frau hatte keine Zigarette in der Hand, sondern einen Lippenstift, und wies die Beschuldigung empört zurück: „Ich habe nicht geraucht. Ich wollte mir nur die Lippen nachziehen. Als ich hier rein bin, hat es schon gepiept. Die anderen Reisenden können es bestätigen.“ Die Schaffnerin guckte mich an. Ich hatte es nicht genau gesehen, entschied mich aber zu nicken. Die Frau erlangte ihre Freiheit zurück. Eine halbe Stunde später entdeckte ich sie vor der Bühne von Clemens Christian Pötzsch.
Man muss seiner Intuition schon vertrauen können, für wen man einen Meineid riskiert. An diesem Sonnabend kommt zum Guten-Morgen-Konzert von Jazz in E. genau der andere deutsche Jazzmusiker, für den ich lügen – und als Frau mir die Lippen röten würde: Tobias Hoffmann.
Der Jazz in E.-Blog von Thomas Melzer
Zum 28. Mal: die Sinnfrage
Der dritte Tag
Den Freitagabend eröffneten Christoph Stiefel am Flügel und Lisette Spinnler am Gesangsmikrofon. Sie gaben ein gediegenes, geschmackvolles Konzert, das sich nahtlos in die Flora und Fauna des Forstbotanischen Gartens einfügte. „The heartbeat of a bird“ heißt die aktuelle CD der beiden Schweizer, die vor Ort natürlich auf die stimmgewaltige Unterstützung der heimischen Vogelwelt zählen konnten. „The birds are amazing“, stellte Lisette Spinnler fest. „Und“, fragte sie dann ins Publikum, „wohnen SIE auch alle im Wald?“ Das würden wir vielleicht nicht so sagen. Offenbar schafft der aktuelle Festivalort ein gewisses Identitätsproblem. Im Paul Wunderlich-Haus erscheint der Eberswalder urbaner. „Ich gehe, wenn möglich, jeden Tag im Wald spazieren, barfuß“, erzählte Spinnler. Dann wird sie den Vogel ja wohl kennen, dachte ich, dessen Stimme den ganzen Abend schon besonders selbstbewusst auf die Lichtung schallt. Ich aktiviere die Bestimmungsapp. Meine neue Leidenschaft: im Garten Sänger outen. Ein Bluthänfling, soso.
Nur zur Erinnerung: es ist Freitagabend nach Himmelfahrt. Über Jahrzehnte war dieser Festivalabend als Frickelfreitag bei den einen berüchtigt, bei den anderen geliebt. Es war der Programmplatz für den freien Jazz, an dem sich die Geister scheiden (und dem Festival einst der Verlust eines Großsponsors drohte). Es war der Abend, an dem – noch lange nach dem Verlassen der legendären Garage – der Garagengeist aus der Flasche gelassen wurde.
Noch nie hat sich das Festival von jenem Geist weiter entfremdet als heute, in diesem Konzert. Und das Publikum? Statt gefrickelt wird bei Jazz in E. in diesem Jahr: gestrickt. Die Besucherin mit den Nadeln ist seit dem ersten Abend dabei. „Hallo, was stricken Sie denn da?“ „Ich stricke Dreiecktücher. Warum, stört das?“ „Nein überhaupt nicht, es ist nur ungewöhnlich.“ „Na bei so einer Frauenveranstaltung in Baden-Württemberg haben sie das Stricken mal als störend empfunden.“ „Sie haben ja schon während des gesamten Festivals gestrickt. Kann man an Ihrer Farbwahl oder den Maschen im Nachhinein erkennen, wer da gerade gespielt hat?“ „Ich weiß nicht. Angefangen habe ich am Mittwoch mit Grün. Jetzt gerade stricke ich einen orangen Streifen. Gucken sie mal, meine Freundin hier neben mir trägt ein fertiges Tuch um den Hals. Wir sind ja beide Rentnerinnen und wohnen in Berlin. Während des Festivals haben wir uns im Waldsolarheim einquartiert.“ „Verraten Sie mir Ihren Namen?“ „Ich heiße Waltraud Köhler.“ „Na dann Frau Köhler, einen guten Faden weiterhin!“
Natürlich stellt Jazz in E. auch dem Chronisten immer wieder die Sinnfrage. Die Antwort fällt überzeugend aus, wenn es darum geht, mit dem Blog Neugier und Lust auf die bevorstehenden Konzerte zu wecken. Aber danach? Das hier ist keine Nachtkritik, wollte nie eine sein. Wen interessiert schon, wie der Blogger erlebte, was jeder mit eigenen Ohren hört. Aus der Sinnkrise half am Donnerstag ein kurzer Disput am Kassenhäuschen. Ein älteres Ehepaar beklagte grantig, dass es bei Jazz in E. keine gedruckten Eintrittskarten mehr gäbe. Die freundlichen Aktivistinnen am Einlass boten an, eine Quittung auszustellen. Darum geht es doch gar nicht, sagten die Besucher, wir hätten gern Eintrittskarten als Erinnerung, als Souvenir. Ich wollte ihnen hinterherlaufen und vorschlagen, doch den Blog als Souvenir zu nehmen, auffindbar unter www.mescal.de, Mescal wie der berühmte Agavenschnaps – da können sie noch Jahre später lesen, wer gespielt hat und wie kalt es am Eröffnungsabend war.
In der Pause lungert der Chronist am Mischpult rum. Die Aktivisten kennen das schon, wenn er nicht weiß, was er schreiben soll, droht ihnen Ungemach. „Ach was“, verkünde ich, „ich schreibe einfach, wer von Euch seit dem Eröffnungsabend lange Unterhosen trägt.“ Im Jazz gelten lange Unterhosen als extrem ehrenrührig, sie können bürgerliche Existenzen vernichten. Doch nun macht ein noch schlimmeres Gerücht die Runde: das Bier ist alle. Das gab es bei Jazz in E. noch nie. Da sind vielleicht mal nur 18 Eintrittskarten verkauft worden oder hat ein weltberühmter Schlagzeuger das für ihn aufgebaute Schlagzeug als „Westerntrommel“ geschmäht. Aber Bier gab es immer genug.
Jetzt geht es endlich auf der Bühne weiter, mit dem Richard Koch Quartett. Der Wiener Richard Koch war schon sehr oft in Eberswalde, und wären diese Besuche nicht beruflich, sondern privat gewesen, hätte er hier wohl einen schlechten Leumund: ständig wechselnde Begleitungen! So aber ist seine unterschiedliche Gesellschaft mit vielen Höhepunkten in der Jazz in E.-Geschichte verbunden: Miss Platnum, Olaf Thon, Andromeda Mega Express Orchestra, Peter Ehwalds „Septour de grand matin“, zuletzt vor zwei Jahren solo. Nun also kommt er als Chef der eigenen Band und natürlich stecken in ihr drei exzellente Musiker: Michael Horneck am Flügel, Matthias Pichler am Baß und Tilo Weber am Schlagzeug. Sie stellen ihre neue Platte vor, „Fluss“ benannt. Die meisten Stücke habe er beim Spazierengehen im Wald komponiert, erzählt Koch. Er also auch. Vermutlich kennt er dann ja auch den Bluthänfling. Wie er spielt, das hat allerdings gar nichts hänfliges, im Gegenteil. Breitbeinig in Rückenlage, die Trompete in der rechten, mit der linken Hand dirigierend. Das könnte leicht prollig wirken, bei Richard Koch wirkt es genial lässig. Jenseits der 50 muss man sich ja davor hüten, das Wort ‚geil‘ zu verwenden, aber ‚genial lässig‘ meint genau dasselbe. Die Musik? Soul, Schnulzen, ja Gassenhauer. Das Publikum ist vielleicht zu überrascht, um auf das Naheliegende zu kommen und zu tanzen. Aber es hat großen Spaß. Für das letzte Stück schlendert mit umgehängter Gitarre der am Vorabend seines Konzerts schon angereiste Tobias Hoffmann auf die Bühne. Was für ein schönes Konzert! Ich hätte als Erinnerung daran jetzt gern eins der bunten Dreiecktücher von Frau Köhler.
Der Jazz in E.-Blog von Thomas Melzer
Zum 28. Mal: die Sinnfrage
Der zweite Tag
Was bekannt ist: Jazz in E. war schon immer ein Himmelfahrtsfestival (und gelegentlich ein Himmelfahrtskommando, musikalisch wie finanziell). Was nur die Altvorderen wissen: In frühen Jahren gab es das erste Konzert am Tag vor Christi Himmelfahrt und das nächste am Tag danach. Am eigentlichen Feiertag herrschte Ruhe. Die Gründe liegen inzwischen im Nebel. Vielleicht war es die pietätvolle Rücksicht, das Gedenken an den Aufstieg des Gottessohnes nicht mit Rabaukenmusik zu hintertreiben. Vielleicht war es die Sorge, die Jazzjünger könnten bei Musikbeginn vom traditionellen Bollerwagenausflug noch nicht zurück sein. (Jazz in E. hat traditionell eine Schönwettergarantie.) Gewiss war es auch die Angst vor den alkoholischen Exzessen, die diesen „Herrentag“ lange geprägt haben. In peinlicher Erinnerung ist noch, wie einst am Tag danach arglose ausländische Musiker auf ihrem Rückweg vom Hotel durch den von Eberswalder Herren quasi verwüsteten Park am Weidendamm kamen und danach völlig verstört weltweit die Gewissheit verbreiteten, in Eberswalde nähme das Ende der Zivilisation seinen Anfang.
Nun also, in diesem Jahr: Ausflug ins Grüne plus Bierausschank plus Musik, gespielt von kummergewohnten deutschen Musikern. Familientauglicher Beginn um 15 Uhr. Doch – sinnerfüllt mit welchen Klängen?
Vor einigen Jahren beschäftigte sich dieser Blog mit der Frage, ob es – wie etwa zum Feiertag der Geburt Christi – auch eine die Himmelfahrt feiernde Musik gäbe. Ob kirchlich oder profan, der Befund war dünn. In diesem Jahr gastiert nun beim Festival der Spezialist für die sakrale Himmelfahrtsbespielung. Schon am Himmelfahrtstag 1997, bei den „3. Eberswalder Jazztagen“, spielte Gert Anklam in der St. Georgs-Kapelle ein „Konzert für Baritonsaxophon, Stimme und Lichtbilder“. Wieviel Zeit ins Land gegangen ist, merkt man bereits daran, dass mit diesen Worten ein Konzert heutzutage wahrscheinlich nicht mehr beworben würde. Oder – bei Gert Anklam vielleicht doch? Er kommt diesmal mit dem Organisten Volker Jaekel. Und soviel Luft der auch durch seine dreimanualige Orgel und Anklam durch sein Saxophon schicken werden: künstlich aufgeblasen ist bei den beiden nichts.
Bevor der Chronist über den vor einer Stunde zu Ende gegangenen Eröffnungsabend berichtet, muss er sich zunächst um seine Körpertemperatur kümmern. Der caternde Globus-Naturkostladen hatte leider keinen Glühwein im Angebot, er hätte das Geschäft seines Lebens machen können. Nun „aprés“ heißen Tee zu trinken, bewahrt immerhin vor trunkenem Überschwang, einem insbesondere nach dem zweiten Konzert des Abends nicht geringen Risiko.
Los ging es mit Matthias Loibner an der Drehleier und Lucas Niggli am Schlagwerk. Das entspannt- gemächliche Agieren auf der Bühne hat das Kind nach fünf Minuten gecheckt, jetzt will es den Forstbotanischen Garten erkunden. Wir enden im Alpinum, quasi dem angestammten Biotop der beiden Musiker, angemessen erhöht auf einer „Baumelbank“, die Bühne außer Sicht-, nicht aber außer Hörweite, die Abendsonne auf der Stirn, große Kiefernkronen über uns. Natürlich ist das unhöflich gegenüber den Künstlern, aber was will man machen, wenn dieser Park voller Lieblingsplätze ist, an denen es überall gut klingt. „Papa, ist die Anzahl der Punkte bei einem Marienkäfer abhängig vom Alter, von den Genen oder vom Zufall?“ „Vom Alter.“ „Falsch, b) wäre richtig gewesen.“ „Ok, aber nun lass uns wieder lauschen.“ Zum Schlussapplaus sind wir zurück vor der Bühne.
In der Pause gibt es noch immer keinen Glühwein, vielmehr ist nun sogar die Suppe alle. Mal gucken, ob im Auto noch ein paar warme Sachen liegen. Von wem stammt die fake news, die Eisheiligen blieben uns in diesem Jahr erspart?
Dann betreten Maja Ratkje und Stian Westerhus die Bühne. Um es kurz zu machen: Es wird das erhofft große, ja großartige Konzert. 27 Jahre Jazz in E. haben auf den Ohren gewiss einiges an Hornhaut hinterlassen. Gelegentlich sorgt das für leise Wehmut, wenn sich die leichte Begeisterung junger Jahre nur selten noch einstellen will. Vorfreude erlischt dann in Abgebrühtheit. Wenn jedoch eine Musik es schafft, durch all die Sedimente zu dringen, ist das Glück umso größer. Die Musik von Maja Ratkje und Stian Westerhus, die es noch nicht einmal auf einer Platte gibt oder in einem Internet-Musikportal, ist in mich eingedrungen wie Amors Pfeil. Und offensichtlich nicht nur in mich.
Über der Konzertlichtung lag eine geradezu gebannte Spannung. Kein Wort war zu hören, kein Rascheln, kein Gläserklirren. Der große Nachteil eines Open Air-Konzerts, keine Wände zu haben, die Energie zurückwerfen und konzentrieren, war hier nicht zu spüren. Stattdessen eine Aufmerksamkeit, die nur besonderem widerfährt. Die sakrale Erhabenheit des Harmoniums, der bitterzarte Schmelz der Violine, die lyrische Luftigkeit der Gitarre. Dazu die beiden Stimmen, die – jede für sich und vor allem miteinander – das nicht Selbstverständliche mühelos schaffen, Kunstgesang zu formen und zugleich archaisch menschlich zu bleiben. Würde und Leidenschaft, Leidenschaft und Würde. Hier wäre jetzt doch Antwort a) richtig. Man muss die Texte nicht durchweg verstehen (was bei Shakespeare selbst dann schwierig wäre, hätte man sie ausgedruckt vor sich liegen), um an ihren Lippen zu hängen und zu ahnen, wovon sie singen. Die einzelnen Stücke gehen ineinander über, doch als „Verona“ verklungen ist, hält es das Publikum nicht mehr und erlöst sich mit Applaus. Aus der Abenddämmerung weichen jetzt die Farben, in den umliegenden Bäumen verabschieden sich die Amseln. Die transparente Folie im Bühnenhintergrund gibt den Blick verschwommenen frei auf den Wald dahinter, auf die bis in die Wipfel rot und grün angestrahlten Stämme. (Lichtgestaltung Dustin Traut, den philharmoniegleichen Sound verantwortet Tim Altrichter). Die Konzertdramaturgie hat den Höhepunkt für das Ende aufgespart, „Gravedigger“, das Lied der Totengräber aus „Hamlet“ zur Musik von Giovanni Battista Pergolesi. Dann ist es vorbei und geht über in das Begreifen, etwas ganz Großem beigewohnt zu haben. Beiwohnen meint hier: in Musik zu Hause zu sein.
Zum 28. Mal: die Sinnfrage
Geschichtsfaden aufnehmen
Von Udo Muszynski
Anfang des Jahres besuchte mich ein Freund aus Jugendtagen und brachte mir drei Briefe mit, die ich ihm vor ca. 40 Jahren während seiner Armeezeit geschrieben und in die Kaserne geschickt hatte. Datiert sind sie mit Berlin, 24.6.1982 – Quappendorf, 20.12.1982 – Vitte auf Hiddensee, 17.2.1983. Auch Briefe vergangener Tage begegnen einem nicht zufällig. Und schon wieder geht die Erinnerungsreise los und die Zeilen katapultieren mich in eine andere Zeit:
Saxophon – schwebende Töne
Baß – alles durchdringend
Schlagzeug – mein Rhythmus
Klavier – zum Wegtreten
Das ist der Rahmen einer Platte (*1), die aufliegt in der Zionskirchstraße 8 – Seitenflügel rechts, die Kinder aus ihrem Mittagsschlaf weckt, die Leute aus ihrem Fenster gucken läßt ‘um zuzuhören‘, die Opas zu Jazz Fans werden läßt, die Muschinski Briefe schreiben läßt…
Die achtziger Jahre, von mir immer wieder als von Verfall gekennzeichnete Endzeit beschrieben, erfahre ich über meine eigenen alten Zeilen aber auch noch einmal als eine Zeit des Aufbruchs. Was wird in den drei Briefen nicht alles wieder sichtbar: Die Anstrengungen des Abiturs auf der Abendschule, die ungeachtet dessen zahlreichen nächtlichen Kneipentouren mit den Freunden, die stundenlangen intellektuellen Kämpfe im „Elephanten“ (*2), der Budapest Ausflug im Sommer, die winterlichen Erkundungsreisen nach Moskau und auf die Insel Hiddensee. Vor allem aber berichte ich meinem Freund, dass ich zuversichtlich wie nie zuvor und voller Pläne bin. Ich habe Berlin verlassen, der Beschäftigung im „roten“ Außenhandel Adieu gesagt, arbeite nun auf dem Bau, werde Handwerker werden und versuche mich an einer ersten eigenen kleinen Zeitung. (*3)
Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß ich mir über den eigentlichen traurigen DDR-Normalzustand im Klaren bin, der im Außenhandel, in den Studieneinrichtungen und, wie Du sicher mit am meisten bemerkst, bei der Armee seinen Unfug treibt. Und sicherlich wird es eins meiner (unserer) Hauptprobleme sein, sich mit diesem Zustand auseinanderzusetzen, Mittel und Wege zu finden, Einfluß zu nehmen, auf den uns zugänglichen Kreis. Hört sich vielleicht alles ein bißchen hoch angebunden an, und macht mir auch nicht selten Kopfzerbrechen, aber ich glaube das Wichtigste ist anzufangen mit dem „Andersmachen“.
In den letzten zwei Jahren legt sich galoppierend eine kulturelle Amnesie über das Land, deckt eine Geschichte nach der anderen zu. Manch einer spricht gar schon von einer sterilen Existenz, weil er sich von seiner eigenen Geschichte getrennt sieht und mit der „neuen Normalität“ nichts am Hut hat. Über die Erinnerung können wieder Brücken geschlagen werden. Nehmt den Geschichtsfaden auf, holt die alten Geschichten ans Tageslicht und tragt sie vor. Und: Schreibt auf, schreibt neue Geschichten oder Tagebuch. Glaubt Dir ansonsten später kein Mensch.
28. Januar 2022
Anmerkungen:
(*1) „Great Moments with Keith Jarreth“ (feat. Dewey Redman, Charlie Haden, Paul Motian); Impulse, MCA Records, 1981
(*2) Der Elephant befand sich in der Veteranenstraße in Berlin-Mitte. Meiner Erinnerung nach, waren die Öffnungszeiten 20 bis 3 Uhr in der Nacht, in Ostberlin eine absolute Ausnahme, die meisten Kneipen schlossen um Zehn, andere um Mitternacht. Im Elephanten gab es kein Bier, nur Wein. Die Gaststätte hatte keine Klinke von außen und tatsächlich ein Guckloch, durch welches die Gäste begutachtet wurden. Mit Jeans kam man definitiv nicht hinein, brauchte man gar nicht erst versuchen. Und in der Kneipe sah man ein buntes Volk, welches einem normalerweise nicht so über den Weg lief, Künstler, Transvestiten, Leute, denen man ihre Knastgeschichten aus dem Gesicht ablesen konnte. An den Nebenraum kann ich mich auch gut erinnern, manchmal diente er als Hinterzimmer und ich bin mir ziemlich sicher, daß dort um hohe Geldbeträge gespielt wurde. Einmal kam ich mit einem Freund von einem öffentlichen Vortrag mit Jacob Holdt in der Humboldt-Universität, der dort seine „Amerikanischen Bilder“ gezeigt hatte. Im Anschluß suchten wir den „Elephanten“ auf und gerieten an einen Tisch mit dem Jazzpianisten Uli Gumpert, dessen Konzerte wir schon besucht hatten. Ihm und seinem Kompagnon erzählten wir begeistert vom Vortrag. Jedenfalls guckten uns die wahrscheinlich gut fünfzehn Jahre Älteren, somit Mitdreißiger Gumpert & Co an und sagten lapidar: „Naja, guckt Euch mal Bilder an“. Spontan haben wir uns am Kneipentisch noch gewehrt, aber losgelassen hat mich dieser Spruch nicht…
Im Buch „Alte Filme“ von Klaus Schlesingers gibt es eine Kneipenszene. Bei der Kneipe (obwohl sich die Kellnerin im Buch gegen diese Bezeichnung verwahrt) handelt es sich meiner Meinung nach ganz sicher um den „Elephanten“. Vielleicht hieß die Einrichtung auch gar nicht so, sondern wir haben sie nur so genannt, aber ich glaube schon. In den achtziger Jahren habe ich die Schlesinger Passage immer wieder einmal vorgelesen, weil ich mich wie ein Teil des Buches fühlte, alles war genauso wie beschrieben, oder hätte genauso sein können.
(*3) Der Fährmann
Eine Kolumne von Udo Muszynksi
In den achtziger Jahren habe ich mit Freunden das mehrtägige Ruhlsdorfer Fest organisiert, eine Mischung aus Konzerten, Gesprächskreisen, Handwerkskursen, Spielen und Baumpflanzaktionen. Von 1983 bis 1986, 1987 schließlich verboten. 200 Leute aus der ganzen Republik, der DDR, waren dabei, alle persönlich eingeladen.
Zu einer der Ausgaben haben wir mit der Gestaltung des Zugangs zur Veranstaltung die Freunde provoziert. Der erste Abend war immer der Party vorbehalten. Im Land waren die langen Schlangen vor den Jugendklubs und Konzertstätten allgegenwärtig, ob man hineingelassen wurde, war häufig glücklichen Umständen oder einfach dem Zufall überlassen, in aller Regel waren Bedingungen zu erfüllen. An der Tür des Tanzsaals hieß es „Ohne Kirsche kommt ihr hier nicht rein“, für den Studentenclub brauchtest Du immer einen Ausweis oder eine Studentin, mal hattest Du die falschen Hosen an, mal zu lange Haare. Und dazu gab es das vom Einlaßpersonal ausgeübte Ritual des Wartenlassens, reine Willkür. Mit all dem konnte man beim familiären und hippiesken Ruhlsdorfer Fest natürlich nicht rechnen und dennoch stand die größer und größer werdende Menge der frisch angereisten Gäste nun vor verschlossener Partytür. Wurde von uns vertröstet und noch einmal vertröstet. Wie weit konnten wir den Geduldsfaden spannen? Ein gefährliches Spiel, die Besucher unmittelbar nach ihrer Ankunft mit der gerade entronnenen Alltagsrealität zu konfrontieren. Schließlich öffnete sich die Tür, aber nur einen Spalt. Die Gäste mußten einzeln durch einen Gang aus Polsterkissen kriechen, im Foyer angelangt stand eine Art Leibesvisite an, sonnenbebrillt wurde sich nach dem werten Befinden erkundigt. Nach dieser Tortur jedoch, wurde ein Jeder herzlich umarmt und persönlich unter Liebkosungen in den mit Teppichen ausgelegten Saal geleitet. Gedimmtes Licht, sphärische Musik, freie ebenerdige Platzwahl und dann endlich: genußvolles Warten. Die Prozedur dauerte insgesamt bestimmt eine Stunde. Im Anschluß legte die Band los und das Fest sah lange kein Ende.
Warum erzähle ich das jetzt, bald vierzig Jahre später? Damals wollten wir den Gästen mit der Aktion, die nicht alle verstanden und somit auch nicht alle guthießen, wohl vermitteln: Hej, ihr seid hier nicht im Ferienlager. Wir feiern, na klar, aber wir diskutieren hier auch über das, was sich im Land ändern muß. Abtauchen schon, aber wach bleiben.
Seit nun fast zwei Jahren ist der Zugang zu Veranstaltungen reglementiert, wiederum ist er an Bedingungen geknüpft. Diesmal mußt Du immer frisch behandelt sein oder aber einen
Gesundheitsnachweis erbringen, diesmal hilft Dir keine Kirsche, keine Studentin und auch nicht der richtige Haarschnitt. Du mußt leider draußen bleiben, die (zugegeben langweilige) Party läuftohne Dich. Keine Nische. Totalitär.
Das randständige Ruhlsdorfer Fest der achtziger Jahre würde man aus heutiger Sicht sicher der Subkultur zuordnen. Heute jedoch bedeutet Subkultur: Wir stellen uns mitten auf den Platz und sind von allen zu sehen. Jeder kann herantreten und dabei sein.
9. Januar 2022
Foto: Archiv Udo Muszynski
Eine Vision, aufgeschrieben im November 2008, im Oktober 2021 wieder einmal hervorgeholt
Von Udo Muszynski
Als ich vor knapp fünfzehn Jahren, es muß so Ende 2008, Anfang 2009 gewesen sein, aus Eberswalde wegging, da dachte ich dann doch – ist vielleicht gut so, alles hat seine Zeit.
Nicht, daß es mir nicht gefiel, hatte diese Stadt doch eine wundervolle Umgebung und an den Sommerabenden war man ganz schnell mit dem Rad am Bachsee oder auch mit den schnellen Autos der Freunde am Werbellinsee. Auch konnte man damals erstmals wieder davon reden, daß die Stadt so etwas wie ein Zentrum hatte. Draußen, auf dem Marktplatz einen Kaffee trinken, daß hatte es Jahrzehnte nicht gegeben und so langsam ergriffen die Menschen wieder Besitz von ihrer Stadt, zeigten sich, trafen sich. Das neu erbaute Paul-Wunderlich-Haus hatte der Stadtmitte ein neues Gepräge gegeben, war eine durchaus gelungene Ergänzung der Herzog & de Meuron – Bauten am angrenzenden Stadtcampus, und präsentierte in einem Verwaltungsgebäude zeitgenössische Kunst.
Ich als ein Jazzfan, gewissermaßen von Geburt an, begeisterte mich an dieser sich immer wieder verjüngenden und somit aktuellen Musik und hatte ein Festival vor der Tür, wie es ein vergleichbares im Land Brandenburg nicht gab. Ein junges Filmfest fand seine Gestalt und seine Besucher und Besucherinnen. In der Nähe siedelte ein britisches Künstlerpaar und baute einen Wasserturm zur touristischen Attraktion. Künstlerrinnen mit Handschrift, wie Gerhard Wienckowski und Gudrun Sailer, lange etwas im Verborgenen arbeitend, wurden überregional sichtbar, anerkannt. Auch schaute ich hin- und wieder bei den Studenten und Studentinnen vorbei, wunderte mich jedoch, daß sie sie oft unter sich blieben, ein fast kasernenähnliches Leben führten und enorm viel Zeit auf der Bahn verbrachten.
Die Stadt selbst hatte Mitte der Neunziger Jahre das Kulturamt abgeschafft, alles Kulturelle ward endgültig in die Nische gedrängt. Im Vorbeigehen hängt man der Kunst und Kultur auch noch schnell das Elitäre an. Nichts Essentielles, nichts was zur Grundausstattung des Lebens gehört. Gerne als Bonus, nach getaner Arbeit, ein Zusatz, etwas was man aber auch ohne Probleme lassen kann.
Nun, kurz bevor ich mich aufmachte, wurde ein Kulturamt neu gegründet. Ob es mehr als eine symbolische Handlung des neuen (durchaus sehr kulturaffinen) Bürgermeisters war, noch nicht wirklich einzuschätzen. Zwar wurde zwischenzeitlich auch von den lokalen Verantwortungsträgern erkannt, daß es der künstlerischen Impulse bedarf, dass Kreativität ein Fortschrittshebel ist, dass kulturelle Veranstaltungen mit Außenwirkung der Stadt ein erheblich aufgebessertes Image verschaffen können – nur zu wirklichen Investitionen zeigte man sich noch nicht bereit. Kunst und Kultur, das geht ja auch mit Luft und Liebe. Viel wollen, wenig investieren, wäre die drastisch formulierte Zuspitzung.
Nun gut, ich war dann mal weg.
Und jetzt, will ich unbedingt wieder hin.
Am letzten Sonnabend, und das Jahr 2021 neigt sich so langsam dem Ende, führte es mich wieder in die Stadt. Ich besuchte die 750. Veranstaltung von Guten-Morgen-Eberswalde, eine Reihe welche ich noch aus den Anfangstagen kannte. Zum Jubiläum machten es insbesondere Künstler aus den neuen „Quasi-Partnerstädten“ Göteborg und Barcelona zu einem schönen Straßenspektakel. In diesen Städten hatte sich das Veranstaltungsformat, hier hieß es jedoch Guten-Morgen-Göteborg bzw. Guten-Morgen-Barcelona, ebenfalls gut entwickelt.
Eberswalde ist jetzt kulturell über Deutschland hinaus gut vernetzt. Die Menschen sind auf Reisen, kommen allerdings gerne wieder. Es gibt viele Treffpunkte, Kulturcafes, Galerien, sogar ein Studiokino, mal privat, mal über einen Verein betrieben. Der Clou ist die Freie Schule für künstlerische Gestaltung. Denn die vielfältigen kulturellen Impulse inspirieren zur Selbsttätigkeit, zum Entdecken der eigenen Möglichkeiten. Die Touristinformation ist rund um die Uhr geöffnet, kein Wunder hat es doch jetzt ein angeschlossenes Hotel & Hostel. Ich muß mal rausbekommen, in welcher Trägerschaft das funktioniert. Auch weiß ich gar nicht, ob es das Kulturamt der Stadt immer noch gibt. Vielleicht ist es dieses mobile Servicebüro, wo ich mir vorhin das „Wunder“ geholt habe, was für ein Name für eine kulturelle Monatszeitschrift. Die gemeinsame Bibliothek von Stadt und Fachhochschule ist ein stark frequentierter Lesetreff aller Generationen. Hier gibt es ungezählte Tages- und Monatszeitschriften und einen guten Grundbestand. Alles Spezielle erhält man binnen Stunden über die Fernausleihe. Mit dem geplanten Neubau soll hier im übrigen demnächst auch das städtische Archiv angekoppelt werden.
Archiv, Geschichte, gar kein so schlechter Gedanke. Müssen wir doch wissen, wo wir herkommen, damit wir eine Ahnung davon bekommen, wohin wir gehen.
Der Text entstand für die „Zukunftswerkstatt“ verschiedener Eberswalder Kulturakteure am 1.12.2008 im Tanzsalon Zippel. In einer selbstorganisierten Kulturwerkstatt wurden in einem langen Prozeß die Voraussetzungen für eine Kulturentwicklungskonzeption für die Stadt Eberswalde geschaffen.
Guten-Morgen-Eberswalde No. LIII am 12. Juli 2008 (Ein Jahr Guten-Morgen-Eberswalde). Foto: Torsten Stapel
von Udo Muszynski
Diese Mode hält sich jetzt doch bestimmt bald fünfzehn Jahre, oder? Sie sehen sie doch auch immer noch überall, nicht wahr? Junge, mitteljunge Menschen, also Mitdreißiger durchaus dabei, mit Löchern in den fabrikneuen Hosen.
Die Botschaft dahinter: Ich habe mich in den Wind gestellt, der Regen kam hinzu. Die Party war heiß und laut und die Nacht ganz kurz. Kein Auge habe ich zu gemacht, keinen Wecker gestellt. Ich bin da immer durch. Mein selbstgewählter Platz war der Bordstein, das Geländer, die herbeigezogene Kiste. Kein Kissen nirgends. Mit den Jungs den Ball geholt. Mal Straße, mal Schotterplatz und dann über das nasse Gras gerutscht. In der Werkstatt geschraubt, überall Schmiere, auch an der Hose, die dann über dem Beckenrand geschrubbt. Das Leben hart und schön, Rock’n’Roll halt. Immer geht was kaputt, immer wieder wird geflickt.
Tja, das wäre was und die Hose eine Trophäe!
Stattdessen hat der ein- oder andere von den vermeintlichen Kämpfen Gezeichnete noch nie ein Feuer selbst angemacht. Wenn es kalt ist, geht er einfach nicht raus. Sicher ist sicher und das Fahrrad wird nie ohne Helm benutzt.
4. Oktober 2021
Foto: Josch der Frosch
Von Udo Muszynski
Ein Sinnbild der letzten ein, zwei Jahrzehnte sind für mich hierzulande die Zäune. Neue Zäune überall. In der Regel sind sie heute doppelt so hoch wie in den Zeiten meiner Kindheit, sie sind häufig von zweifelhafter Schönheit und zudem immer öfter ganz und gar undurchsichtig. Diese Entwicklung scheint mir längst nicht mehr nur auf Eigenheimquartiere beschränkt, auch in Neubauwohnungssiedlungen, die ja zumeist in einem relativ kurzen Zeitraum als Planstädte, also mit einer Gesamtidee gewachsen sind, entdecke ich heute umzäunte Bereiche. Das gehört der Wohnungsgesellschaft A und dies der Wohnungsgesellschaft B. Der Zaun als Eigentumsanzeige, als vermeintliches Schutzschild, als Signal der Abgrenzung. Hier ist Schluß, das gehört mir, das gehört uns.
Was habe ich mich in den letzten Jahren über allerorten unterbrochene Wege, über verklebte Einsichten geärgert. Aber irgendwie habe ich mittlerweile auch Verständnis für die Zaunbauer. Denn wenn der öffentliche Stadtraum nicht als Treffpunkt dient, dann schaffen die Leute sich halt ihr Reich hinter der Mauer. Und wenn es Vielen so geht und Viele so handeln, dann teilt sich der Raum konsequent in öffentlich und privat.
Mein Plädoyer gilt dem vergessenen Zwischenraum, dem allerdings notwendigem Scharnier zwischen diesen sich gegenüberstehenden Welten. Hier im Übergangsbereich, im Halböffentlichen, ist die Verantwortung geteilt, es ist noch ein bißchen privat, es ist noch nicht ganz öffentlich. Vielleicht ist diese vorgerückte kleine Grenze auch durch einen kniehohen Zaun markiert, damit hätte ich wohl kein Problem. Jedenfalls sieht man sich, kann sich auf Zuruf unterhalten und flugs ist auch eine Einladung ausgesprochen. Dann geht der Eine raus, oder der Andere kommt rein und schon haken sich zwei Welten zusammen.
Ps. Losungsvorschlag: Bildet Vorgärten!
24. September 2021
Zaungestaltung und Foto: Gudrun Sailer
In der aktuellen Kolumne von Kenneth Anders auf dem Blog des AUFLAND Verlages spielt auch das Kulturverständnis von „Guten-Morgen-Eberswalde“ eine Rolle.
Wir laden zu Begegnungen und setzen uns seit Jahrzehnten für offene Kulturformate ein. Bei uns muß niemand einen Ausweis vorzeigen und das wird auch so bleiben. Der Zugang ist bedingungslos, klar, hier und da kostet es Eintritt, aber mehr als die Eintrittskarte wird von uns nicht kontrolliert.